Graz, die zweitgrößte Stadt Österreichs, stand lange im Schatten Wiens. Doch daraus löste sich die steirische Metropole in den vergangenen Jahren gleich dreimal: 2003 überzeugte sie als Kulturhauptstadt Europas, seit 2008 verwöhnt sie als „Genuss-Hauptstadt“ und 2011 erhob sie die UNESCO zur „City of Design“.

Oh!, hier wird noch renoviert, konstatiert ein ahnungsloser Gast erstaunt, als er sein Zimmer im ehemaligen Grand-Hotel, nunmehr „Wiesler“, betritt und vor einer unverputzten Wand steht. Mitnichten, das ist modernes Design! Mit dem wird der Plüsch früherer Jahre überwunden und das Hotel gab sogar seinen fünften Stern zurück, um bei der Gestaltung etwas freier agieren zu dürfen. Das schließt auch Humor ein, wie die Vogelhäuschen über den Nachttischen beweisen. Sie sollen schläfrig gewordenen Leseratten dazu dienen, ihr Buch aufgeschlagen, aber elegant und einbandschonend auf dem „Dach“ ablegen zu können. Ins Häuschen hinein dürfen natürlich auch ein paar Utensilien, sofern es nicht dem Fenster zugewandt ist. Da macht sich schon ein mächtiger Feldstecher breit, mit dem der Gast seinen Aufenthaltsort genau beäugen soll: Ihm zu Füßen fließt flott die Mur, in dessen Strudeln Surfer fürs große Meer üben. Bewundert werden sie von den Müßiggängern auf den Liegestühlen und an der Bar der Stadtstrands. Nur eine Brücke weiter führt eine Hängekonstruktion, die jedem Wasserpegel nachgibt, auf die immer wieder bestaunenswerte Murinsel, 2003Kernstück der europäischen Kulturhauptstadt Graz. Doch wenn der Gast geradeaus sieht, überwältigt ihn die berühmte Dachlandschaft der Altstadt, ein UNESCO Weltkulturerbe, und lenkt den Blick auf das hoch oben thronende Schloss und den gewaltigen Uhrturm, das Wahrzeichen von Graz.

Zweimal im Jahr lässt sich das Fernglas sogar auf einen ganz besonderen Gast richten: Arnold Schwarzenegger schlägt in der „Wiesler“-Suite sein Lager auf, wenn er mal wieder in der alten Heimat zu Gast ist.

270 000 Einwohnern zählt die zweitgrößte Stadt Österreichs. Über 45 000 Studenten von vier Unis und zwei Fachhochschulen erhalten sie ewig jung und vor allem die Architekturstudenten und ihre internationale Lehrerschaft hinterließen seit den 1980er Jahren, als sie die Altstadt aus ihrem Dornröschenschlaf erweckten, eindrucksvolle Spuren. Von einem verschnarchten „Pensionopolis“, wie Graz der Beliebtheit als Alterssitz wegen gern verspottet wurde, ist nicht mal ein Hauch zu spüren. Wenngleich es bestimmt schlechtere Plätze für einen schönen Lebensabend gibt: das milde Wetter kommt meist von der nur drei Stunden entfernten Adria herüber, auf dem Schlossberg blühen mediterrane Schönheiten und Ungarn ist auch nur eine Stunde entfernt. „Wir sind nicht auf dem Weg nach Süden gelegen“, stellen die Grazer gern klar, „wir sind schon im Süden!“ Zu dem passt natürlich eine Luftmatratze, gelegentlich auch liebevoll Warzenschwein genannt, die vor zehn Jahren einem UFO gleich auf dem Kunsthaus landete. Es beherbergt Ausstellungsflächen und sendet des Abends aus den mehr als tausend gebogenen Acrylplatten geheimnisvolle Lichtsignale oder sogar Liebes-SMS. In den umliegenden Gassen und Straßen hat sich eine lebendige und inzwischen international beachtete Designer-Szene angesiedelt, deren junge Leute nicht etwa auf einem hohen Ross agieren, sondern die Türen stets offen halten und liebend gern mit neugierigen Besuchern über ihre Arbeit reden. Es sei denn, sie sind gerade unterwegs um, wie Lena Hoschek beispielsweise, ihre neuste Kollektion auf Messen zu präsentieren, in ihrem Berliner Laden nach dem Rechten zu schauen oder für Katy Perry Neues zu entwerfen.

Haben viele der in Graz ausgebildeten Industrie- und Mode-Designer inzwischen auf der ganzen Welt Fuß gefasst, verstärken im Gegenzug ausländische Kreative die regionale Szene jedes Jahr im „Design-Mai“. Sie verankern mit Ausstellungen, Workshops, Diskussionen und vielen Aktionen ihre Kunst noch sichtbarer im Bewusstsein der Grazer, bereichern die Stadt und schaffen allerhand Bleibendes. Nur die bei dieser Gelegenheit entstandenen durchaus schönen Müllcontainer konnten leider nicht in Serie gehen. Sie erwiesen sich als nicht kompatibel mit den städtischen Müllautos.

An Architektur und Design satt gesehen lechzt der Pflastermüde danach, sich in einem der einladenden Cafés irgendwas mit Schlagobers zu bestellen. Doch da hat er nicht mit Waltraud Hutter gerechnet, die entschieden Typischeres kennt und davon am liebsten jeden Grazer Gast nicht nur in Kenntnis setzen, sondern auch kosten lassen möchte. Nicht umsonst ist die Stadt seit 2008 „Genuss Hauptstadt Österreichs“.

Einen guten Wein in Aussicht stellend bugsiert die resolute Dame munter auf den Bauernmarkt, referiert über den Grazer Krauthäuptel (eine regionale Salatsorte), lässt mit einem Mangalitza Speckdas pure aber wohlschmeckend auf der Zunge schmelzende Fett probieren, um schließlich beim Fischhändler stolz die Fische der Region zu präsentieren, als wären sie von ihr höchstpersönlich geangelt. Ihre besondere Liebe aber gilt der prall-violetten, rosagetupften Käferbohne. Eine Laune der Natur importierte sie von der Halbinsel Krim und ließ sie zur Nationalspeise mutieren, ohne die kein patriotischer Steirer existieren kann und sie demzufolge nicht nur als Suppe, Beilage, Mus und Salat, sondern sogar als Dessert verputzt.

Waltraud Hutter ist quasi die Inkarnation der regional ausgerichteten Gastronomie, denn sie hat das Projekt Genusshauptstadt zu dem gemacht was es ist: der reinste Gaumenschmaus. Er speist sich aus einer unschlagbaren Einheit von Qualität, Region und Tradition. Die ohnehin schon überzeugenden steirischen Produkte werden kreativ veredelt und der Tourismusverband wird nicht müde, auf kulinarischen Streifzügen den Gästen der Stadt zu jeder Information den passenden Happen in einem der 27 Genuss-Restaurants zu reichen. Und wen dann immer noch Zweifel plagen, ob Graz sich zu Recht Genusshauptstadt nennen darf, sollte sich alljährlich im August die Lange Tafel oder besser die festlich gestimmten Tafelnden daran auf dem Hauptplatz ansehen. 700 glückliche Schlemmer aus der ganzen Welt können nicht irren!

(erschienen in „Neues Deutschland“)

 Infos

www.graztourismus.at, www.genusshauptstadt.at